Wiedergelesen: Der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan
Lesen und das Beurteilen von Büchern hat eine ganze Menge damit zu tun, was man von ihnen erwartet. Es gibt bestimmte Schriftsteller oder auch einzelne Titel, die so viele Vorschusslorbeeren bekommen, dass man nach der eigenen Lektüre fast zwangsläufig enttäuscht sein muss. Man erhofft sich vielleicht nicht unbedingt zu viel, aber eben etwas sehr Bestimmtes und meist deckt sich die Phantasie des Autors nicht unbedingt mit der eigenen Erwartungshaltung. Aber es gibt auch ganz andere Bücher, solche, die man einfach so zur Hand nimmt, weil irgendwas – sei es der Klappentext, das Cover oder das bloße Vorhandensein – einen anspricht, und plötzlich liest man sich unerwartet schnell fest. Man weiß eigentlich gar nicht so recht, was und wen man da liest, aber es gefällt und das sogar ganz außergewöhnlich gut. Stewart O‘ Nan ist so ein Schriftsteller für mich.
Amerikanische Familienromane
Als ich „alle, alle lieben dich“ (2009) kaufte, hatte ich mich gerade enttäuscht von einer Jonathan Frantzen Neuerscheinung abgewandt, wollte die Hoffnung auf einen gelungenen amerikanischen Familienroman aber noch nicht ganz aufgeben. Und da war er! Auch wenn die Geschichte, die O’Nan hier erzählt, alles andere als alltäglich ist: Der Klappentext verrät schon, dass es um das Verschwinden einer jungen Frau geht, die in einer amerikanischen Kleinstadt lebt. Das ist sehr typisch für O’Nan: Es geht meist um Menschen aus der amerikanischen Mittelschicht, die in überschaubar großen Städten leben und denen ein ungewöhnliches Ereignis, oft ein Schicksalsschlag, den Boden unter den Füßen wegzieht. Dabei ist von Anfang an klar, worum der betreffende Roman kreisen wird, es sind also keinesfalls wirkliche Kriminalfälle, die von der Frage nach dem Täter getrieben würden. Das, was O’Nan interessiert, ist nicht allein die unmittelbare Katastrophe, sondern die Zeit davor und danach und damit das, was mit den Menschen geschieht, die mit unvorhersehbaren Situationen zurechtkommen und fortan leben müssen. Im Mittelpunkt von „alle, alle lieben dich“ stehen die zurückgelassenen Familienmitglieder und der Roman zeigt anschaulich, was die Unsicherheit und die Zweifel an dem Fortbleiben der Tochter/Schwester/Freundin bei denen anrichten, die keine andere Wahl haben, als damit umzugehen, dass so viele drängende Fragen offen bleiben. Die besondere Kunst von Stewart O’Nan ist, dass er alles, was zwischen Menschen geschieht, ganz genau beobachtet und davon so konzentriert auf das Wesentliche erzählt, dass seine Figuren unheimlich echt wirken und gleichzeitig eine immense Spannung aufgebaut wird. Denn der Leser weiß meist nicht viel mehr als O’Nans Protagonisten und so bleibt vielleicht das ursprüngliche Rätsel ungelöst, während eine ganze Reihe ungeahnter Geheimnisse offengelegt werden.
Von (außer)gewöhnlichen Nächten
Ganz ähnlich funktioniert auch der bereits 1997 erschienene Erstlingsroman „Engel im Schnee“, der 2007 von David Gordon Green verfilmt wurde. Es geht um eine junge Frau namens Annie, die mit ihrer Tochter Tara und ihrem Mann Glenn in einem bescheidenen Häuschen in Butler, Pennsylvania, lebt. Schon ganz am Anfang erfährt man, dass ein Mord geschehen wird und man weiß auch bald, wer das Opfer und wer der Täter sein wird. Es ist jedoch zunächst vollkommen unklar, warum es zu so einer Tat kommen soll und so gräbt O’Nan sich ein in die Vergangenheit seiner Figuren, beleuchtet ihre Charaktere und zeigt, wie sie denken und fühlen und warum sie tun müssen, wovon sie überzeugt sind. Auch hier gibt es einen dramatischen Wendepunkt, an dem das Schicksal der Kleinfamilie besiegelt scheint und nichts mehr werden kann, wie zuvor. Ein Lebensabschnitt ist unumkehrbar vorbei und das, was bleibt, ist die Chance, die Ereignisse und die Menschen dahinter zu verstehen und von ihnen zu erzählen.
Der kurze Roman „Letzte Nacht“ (2007, die auf dem Foto abgebildete Ausgabe ist eine Neuauflage aus dem Jahr 2014) erzählt minutiös von der letzten Nacht in einem Diner, das „Red Lobster“, das an einem kalten Winterabend zum letzten Mal seine wenigen Gäste bewirtet. Die Umsatzzahlen waren zuletzt sehr schlecht und so müssen sich die Mitarbeiter aus Küche und Service sowie der Leiter des Restaurants namens Manny nach neuen Jobs umsehen. Doch das, was da in dieser Nacht zu Ende geht, ist weit mehr als nur das Ende eines durchschnittlichen Schnellrestaurants, denn die Menschen, die sich hier tagtäglich eingefunden haben, zerstreut es nun in ganz verschiedene Richtungen und einst geschlossene Freund- und Feind-, ja bisweilen sogar Liebschaften, gehen auseinander und beginnen etwas Neues. Besonders für Manny ist diese letzte Schicht geprägt von Wehmut und so stecken in jedem noch so vertrauten Arbeitsablauf in dieser Nacht ganz besondere Sorgfalt und das Bewusstsein dafür, etwas zum letzten Mal zu tun. Die unheimlich schöne Melancholie, die das Buch verbreitet, ist ein weiteres Kennzeichen der Romane von Stewart O’Nan und man darf hoffen, dass noch viele weitere Bücher folgen werden, die genau diese Stimmung einfangen und bewahren.
Alle abgebildeten und besprochenen Romane sind im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen.