Wiederentdeckt: Die großartige Alice Munro
Ich stehe vor meinem Bücherregal und denke nach: Welche Autoren sind meine absoluten Favoriten und haben mir mit jedem Buch aufs Neue gefallen? Manche SchriftstellerInnen schreiben stets ganz ähnliche Bücher. Die Schauplätze gleichen sich und auch die Figuren erscheinen vertraut bis identisch. Andere Autorinnen und Autoren wechseln nicht nur die Themen ganz radikal, sondern auch die Genres und so gibt es mit jedem Buch eine ganz neue Dimension des Schreibens zu entdecken.
Nachdem ich auch meine Lieblingsbuchhandlung ratlos und mit leeren Taschen wieder verlassen habe, weil ich mich in keine der Neuerscheinungen auf den ersten Blick verguckt habe, beschloss ich, es mit einer Schriftstellerin zu versuchen, die mich schon seit vielen Jahren fasziniert. Die Rede ist von der großartigen Alice Munro, die neben dem Nobelpreis im Jahre 2013 so ziemlich alle wichtigen Literaturpreise erhalten hat und deren Geschichten oft eine so unerwartete Wendung nehmen, dass nichts vorhersehbar erscheint. Munro ist mittlerweile fast neunzig Jahre alt und wird zusammen mit Margaret Atwood als wichtigste literarische Stimme Kanadas gehandelt. Munro hat mehr als 150 short stories veröffentlicht und nicht nur ihr Schriftstellerkollege Jonathan Frantzen hat Lobeshymnen auf ihren ganz eigenen Schreibstil gesungen. Während die Kurzgeschichte (wie auch die Novelle) in der deutschen Literatur weiterhin eher eine Randerscheinung darstellen, ist das im englischsprachigen und da besonders im amerikanisch-kanadischen Raum ganz anders. Die große Kunst liegt hier darin, das Wesentliche so genau und doch so reduziert wie möglich zu schildern, nicht weit abzuschweifen, sondern ganz genau hinzusehen, zu beschreiben und die Geschichte zu einem runden Ende zu führen – bei dem wir LeserInnen es aushalten müssen, dass wir längst noch nicht alles über das Leben einer Figur erfahren haben.
Von Müttern, die es erst (nicht) werden wollen
Endlich habe ich mich also entschieden und schaue zuerst mal nach, welche Bücher ich überhaupt von Munro besitze. Während ich so durchblättere, kehren viele Erinnerungen an besondere Charaktere zurück. In der Kurzgeschichte „Postcards“ geschieht etwas ganz Seltsames: Helen, eine junge Frau, die im ländlichen Kanada der 1960er Jahre lebt, erhält eine Postkarte, die sie zunächst kaum zur Kenntnis nimmt. Die Karte stammt von ihrem langjährigen Geliebten namens Clare, der sich einmal im Jahre gemeinsam mit seiner Schwester auf eine Urlaubsreise begibt. Doch dieses Mal war Clare wohl nicht ausschließlich mit seiner Schwester unterwegs, sondern, so steht es am nächsten Morgen sogar in der lokalen Zeitung, hat geheiratet. Warum um alles in der Welt, so fragt man sich gemeinsam mit Helen, hat er dann diese Postkarte verschickt? Wollte er seiner nun ehemaligen Geliebten tatsächlich so lang wie möglich etwas vormachen oder steckt etwas ganz anderes dahinter? Plötzlich bekommt die zuvor noch so nebensächliche Postkarte eine ganz andere Bedeutung und wird zum Sinnbild für die Beziehung von Clare und Helen, die rückblickend in einem ganz anderen Licht erscheint.
Munros Kurzgeschichten sind meistens mit Blick auf die Vergangenheit erzählt, sodass mit dem Abstand einiger Jahre bis Jahrzehnte auf ein ganzes Leben zurückgeschaut werden kann. Im Mittelpunkt stehen dabei mehrheitlich Frauenfiguren sowie die Beziehungen von Frauen untereinander, wobei Mutter-Tochter-Konstellationen eine besondere Rolle einnehmen. So auch in dieser Geschichte, die ich wiederentdecke, als ich weiterblättere und mich festlese:
In „Der Traum meiner Mutter“ geht es um Jill, ebenfalls zu Beginn eine junge Frau, die eine Sache sehr gut kann, sich mit einer anderen hingegen recht schwertut. Jill spielt Geige und möchte die Musik zu ihrem Beruf machen. Doch sie lernt einen jungen Mann kennen, der tragischerweise nicht alt werden wird, bekommt ein Kind von ihm und damit beginnt eine schwierige Zeit. Denn ihre Tochter scheint schon von Geburt an einen ganz eigenen Willen zu haben und sich gegen alles aufzulehnen, was von ihrer Mutter kommt. Sie schreit nahezu ununterbrochen, lässt sich von ihrer Mutter weder füttern noch beruhigen und die junge Frau ist so erschöpft und ratlos, dass es ein aufrüttelndes Ereignis braucht, um an der scheinbar ausweglosen Situation etwas zu ändern. Und so geschieht es: Draußen ist es eiskalt, es liegt Schnee und da ist ihr Neugeborenes, eingeschlagen in eine viel zu leichte Decke…
Was wäre wenn?
Munros Schreiben ist anders als alles, was ich sonst kenne, und es ist nicht ganz leicht, zu sagen, warum das so ist. Doch eins wird schnell klar: Wenn man in ihre Geschichten eintaucht, dann lernt man eine Figur aufgrund einiger Lebensdetails, ihrer Gedanken und Träume oder der Darstellung eines Gesprächs so schnell und intensiv kennen, dass man meint, genau nachvollziehen zu können, in welchem Konflikt sie gerade steckt. Dabei wird niemals restlos alles erzählt, das heißt, dass am Ende zumeist noch Fragen offen sind, doch das stört hier nicht, wie bei einem schlechten Romanende, sondern es ist eine Offenheit ganz anderer Art: Munro lässt ihren LeserInnen Raum für eigene Gedanken und für die großen Fragen dazwischen. Was wäre wenn?, ist eine davon, denn oft geht es in ihren Geschichten um eine kurze Episode im Leben oder auch den einen speziellen Moment, in dem die Weichen für alles Weitere gestellt werden und sich ein Lebensweg entscheidet. Reagiert man auf eine Nachricht oder auf eine Bitte oder dreht sich um und lässt alles hinter sich?
Claire, die junge Frau in „Runaway“ versucht mehrfach ihren Mann, der sie unglücklich macht, zu verlassen, doch allein im Bus, auf dem Weg in die große Stadt, verlässt sie abermals der Mut und sie kehrt um in die vertraute Traurigkeit. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie es nach Toronto geschafft hätte? Und wo wäre ich heute, wenn ich mich an diesem oder jenem Punkt anders entschieden hätte? Wären diese drei wunderbaren Kinder trotzdem meine, wäre ich die Frau dieses Mannes und würde ich leben, wo und wie ich lebe? Wer ans Schicksal glaubt, hat es hier einfacher, doch wer, wie ich, eher auf Seiten des Zufalls steht, kommt nicht umhin, sich gelegentlich solche Fragen zu stellen. Alice Munro ist dabei die beste Begleiterin, die ich mir vorstellen kann. Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, sind drei Stunden vergangen, und ich freue mich riesig: Ich habe tatsächlich die Zeit vergessen und mich festgelesen! Ich hatte dabei keinen Stift in der Hand, habe mir keine Notizen gemacht und das war ganz genau das, was ich mir erhofft habe, sodass ich jetzt direkt mal herausfinden muss, welche Bücher ich von Alice Munro noch nicht kenne. Danach könnte ich mir auch noch mal den ein oder anderen Atwood-Roman vornehmen. Oder doch zuerst Maja Lunde und die Bienen, Ali Smith oder Marie N’Diaye? In Büchern denken – es funktioniert wieder und ich würde mich freuen, wenn Ihr mich dabei begleiten mögt. Vielleicht habt Ihr ja auch noch ein paar Tipps und Leseanregungen für mich? Dann schreibt mir doch einfach und wir blättern uns zusammen ein.
EURE SIMONE