Heute darf ich euch Tini Kilian vorstellen, die vor rund zwanzig Jahren nach Schweden ausgewandert ist. Im Interview erzählt sie von ihrem Alltag, von ihrer Arbeit als Gastgeberin bei der Vermietung ihres Ferienhauses und von dem ganz persönlichen Päckchen, das wohl jeder von uns zu tragen hat…
Liebe Tini,
Du bist nach Schweden ausgewandert und das nicht erst gestern, sondern schon 2001 – wie kam es
dazu? War Auswandern schon länger euer Traum und warum ist die Wahl auf Schweden gefallen?
Da müssen wir in das Jahr 1990 zurückgehen. Damals war ich ein großer Gänsefan. Ich habe
sämtliche Bücher aus der Bücherei ausgeliehen, hatte auch ein eigenes Buch über Gänsehaltung. Ich
wollte unbedingt eigene Gänse. Und wenn nicht eine Schar, dann wenigsten zwei. Doch in der
Stadt ist Gänsehaltung natürlich nicht möglich. Nach dem hundertsten Bitten, sagte mein Vater
etwas entnervt, dass ich dann nach Schweden ziehen müsste. Dort hätte ich genug Platz für
Gänse. Perfekt! Es dauerte noch ein weiteres Jah, bis ich das erste Mal nach Schweden reisen
konnte. Und dort gab es tatsächlich viel Platz für Gänse! Ich fand es großartig. Die Gänseliebe ebbte nicht ab, doch der Plan lag erst einmal auf Eis. Bis Daniel in mein Leben kam. Wir konnten uns beide nicht vorstellen, immer in Deutschland zu bleiben. Daniel studierte damals noch an der Uni in Hamburg, ich arbeitete im Kindergarten. Sehr schnell sprach viel für Schweden und noch ein wenig später ALLES! Dann war nur noch die Frage, wann war ein guter Zeitpunkt? Wir entschieden uns für jetzt! Wir kratzten unsere D-Mark zusammen, liehen uns noch etwas und fanden ein Haus in der schwedischen Provinz Småland.
Wir waren 24 Jahre alt. Nichts mehr auf dem Konto, aber mit einem Hund an der Leine, standen
wir mit unseren Habseligkeiten vor unserem ersten eigenen Haus. Weil wir Lust auf etwas Neues
hatten. Weil wir uns hatten. Weil wir jung und unabhängig waren. Und… weil ich endlich Gänse
aufnehmen konnte.
Wie war das Ankommen in Schweden für euch – habt ihr euch schnell eingelebt oder hat das eine
Weile gedauert?
Aus Deutschland gab es so viel Gegenwind. Wirklich begeistert war nur meine Oma, die uns
regelmäßig und gerne besuchte. Sämtliche Orakel von Freunden und Familienmitgliedern sagten
voraus, dass wir nach einem Jahr wieder mit dem Umzugswagen vor der Tür stünden und wir unser
Geld in den Sand setzen würden.
Daniel ist die ersten Jahre gependelt und so oft zu mir nach Schweden gekommen, wie der
Geldbeutel es zuließ. Wir haben uns ein Jahr gegeben. „Ein Haus ist nur ein Haus und kann auch
wieder verkauft werden“. So sind wir an die Sache herangegangen. Aber bereits nach wenigen
Monaten war ich so angekommen, dass ich mir eine Rückkehr nach Deutschland nicht mehr
vorstellen konnte. Daniel war nicht immer da, was nicht immer leicht war. Zumal die
Telefonkosten sehr hoch waren und Internet hatten wir die erste Zeit auch nicht (Omma erzählt
von damals…). Aber wir haben sehr schnell Anschluss gefunden und aus dem Haus wurde ein
Zuhause.
Wir haben unser erstes Haus in einem klitzekleinen Dorf gekauft. Und wir wurden sofort sehr
nett aufgenommen. Was für ein Geschenk! Jeder hat uns mal zum Kaffee eingeladen (dabei hasse
ich doch Kaffee, war aber zu höflich es abzulehnen), mir verraten, wo wir Feuerholz
herbekommen und wie man hier lebt, feiert und sich umeinander kümmert.
Wie hat das mit dem neuen Alltag (und neuen Jobs) für euch in Schweden funktioniert?
Ich hatte mich vorher erkundigt, ob es überhaupt möglich wäre, eine Job zu finden. Mein Ziel war
es, mein Schwedisch so zu vertiefen, dass ich nach einem halben Jahr einen Sommerjob bekäme.
Und es hat geklappt. Ich bekam ein Angebot, drei Monate in einer Wohngruppe zu arbeiten. Das
war am Anfang nicht sehr leicht. Ich hatte einfach Sorge, nicht alles zu verstehen und Fehler beim
Umgang mit den Medikamenten oder im Umgang mit den vier Bewohnern zu machen. So habe ich meine damalige Chefin gebeten, bereits eine Woche vor Antritt meines Sommerjobs ins Büro zu
dürfen. Dort habe ich mit dem dicken Wörterbuch gesessen und habe die Akten der Bewohner
gelesen und übersetzt. Ein echter Kraftakt, der sich auszahlte. Ich durfte mehr arbeiten, als
zuerst vereinbart war und bekam eine Empfehlung mit der ich mich nahtlos bewerben konnte. So
ging es von der Wohngruppe wieder in den Elementarbereich und in die Schule.
Macht ihr manchmal Urlaub in Deutschland? Und falls ja: wie fühlt sich das an?
Ich persönlich verbinde die Reisen eher mit großem Zeitaufwand, Zeitmanagement und es
kommt auch immer ein Gefühl von schlechtem Gewissen auf. NIE hat man für alle Zeit. NIE hat
man Zeit genug. Ich bin einmal fünf Jahre nicht in Deutschland gewesen, weil es mich nicht dorthin zog. Es ist wesentlich einfacher, wenn uns Familie und Freunde in Schweden besuchen. Wenn wir wirklich
Zeit füreinander haben. Auch, wenn wir natürlich nicht immer gleichzeitig Urlaub/Ferien haben,
wenn wir Besuch bekommen. Manchmal wird schlichtweg auch vergessen oder verdrängt, dass
wir hier unseren Alltag haben. Nach Deutschland zu fahren ist kein Urlaub für uns. Wir sagen auch, dass wir „nach Deutschland“ fahren und nicht „wir machen in Deutschland Urlaub“.
Du lebst gemeinsam mit Deiner Familie in Boda – was macht dieses Fleckchen Erde für Dich aus?
Aus dem ersten Haus sind wir nach dreieinhalb Jahren ausgezogen und haben dieses kleine Idyll
gefunden. Boda ist Ruhe und Stille, Platz und Freiheit, Natur, der See, Wald, unsere Tiere und…
Familie. Ein Zuhause, das nicht auf die vier Wände unseres Hauses beschränkt ist.
Ihr vermietet ja auch an Urlauber:innen und seit gerade dabei, ein zweites Urlaubsdomizil zu renovieren. Wie ist das Zusammenleben mit Gästen für euch als Familie?
Wir haben in unserem Haus sehr viel Platz. Aber wenn man Besuch hat, dann kann es doch schon
einmal eng werden. Trotz der 215qm. So entstand die Idee, die Bodastuga zu bauen. Doch wir
wollten nicht nur bekannte Gesichter einladen, hier ihren Urlaub zu verbringen. Ein Ferienhaus
auf einem eigenem Grundstück. Autark mit den wichtigsten Annehmlichkeiten für unsere Gäste.
Wenn unsere Gäste wunschlos glücklich sind, kommt es auch mal vor, dass man sich tagelang nicht
sieht.
Wie sieht ein typischer Tagesablauf für Dich als Gastgeberin aus?
Oft beginnt es mit dem Brötchenbacken. Die werden dann backfrisch an die Tür der Bodastuga
gehängt. Wir erstellen mit den Gästen immer gerne einen groben Plan, wie sie ihre Zeit gestalten
wollen, was sie sehen möchten. Je nach Interessen, Alter der Kinder, Wetterlage und Jahreszeit,
arbeite ich dann Touren aus, buche Tickets, reserviere Plätze, leihe Kanus und versorge die Gäste
mit Tipps und Infos. Die Planung dauert, je nach Größe der Tour, auch schon mal zwei Stunden
für einen Tag. Zeit, die wir uns sehr gerne nehmen.
Es gibt auch Gäste, die die Zeit einfach in unserem Mikrokosmos Boda am See, hier im Wald
oder in der Bodastuga verbringen wollen. Am Ende ist nur wichtig, dass jeder das Beste aus
seinem Urlaub herausgeholt hat und zufrieden und erholt den Urlaub hier beendet. Hin und wieder gibt es auch kleine Krisen, bei deren Bewältigung wir behilflich sind. Im Krankheitsfall einen Arzttermin buchen oder auch mal im Krankenhaus abchecken lassen, ob es sich nicht doch um einen Bruch handelt. Schnellstmöglich einen Werkstatttermin buchen oder einen Abschleppdienst organisieren. Bei einer Nachricht wie „Wir finden nicht mehr zurück!“ oder „Wir brauchen einen Tierarzt!“ sofort zu helfen.
Und so individuell wie unsere Gäste sind, sind auch die Wochen mit ihnen.
Im Alltag begleiten Dich, was mir sehr leidtut, Schmerzen. Du hast einen gutartigen Tumor im
Rückenmark, der auch schon operiert wurde, aber recht rasch zurückgekehrt ist. Wir kennen uns ja nur virtuell, aber dennoch habe ich den Eindruck, dass Du ein sehr positiver Mensch bist und „jetzt erst recht“ Deine Einstellung zum Leben beschreiben könnte. Trügt dieser Eindruck oder liege ich damit richtig?
Ich glaube ich kann ganz gut akzeptieren und mit dem arbeiten, was ich habe. Nicht permanent
das betrauern, was nicht mehr möglich ist. Mich stattdessen erfreuen, was geht. Ich teste gerne aus. „Ist das (noch) möglich? Kann ich noch joggen?“ Ich habe es probiert. Mehr als einmal. Doch immer lag ich dann auf dem Waldboden, weil der Schmerz so groß war, dass ich ohnmächtig wurde. Logische Konsequenz für mich: Dann lerne ich eben flott zu gegen. Ich gewinne vermutlich keine Wettkämpfe, aber es reicht für mich. So versuche ich Alternativen zu finden. Ich lege den Fokus auf das Lösen von Problemen, nicht auf die Suche nach ihnen. Doch finde ich es genauso wichtig, dass ich mal alles doof, gemein, ungerecht, hoffnungslos finde und diese Gefühle auch zulasse. Vielleicht ist das auch mein Glück nie einen ganzen Tag mit diesen Gefühlen zu kämpfen/kämpfen zu müssen…?!
Ich weiß nicht, ob die Einstellung „jetzt erst recht“ auf mich zutrifft. Jede/r trägt sein Päckchen
mit den unterschiedlichsten Aufgaben, Hindernissen, Schicksalsschlägen und Lebenssituationen.
Dies ist mein Päckchen. Ich könnte täglich verzweifeln, mich wie Rumpelstilzchen aufführen,
mich zurückziehen und keine Versuche mehr unternehmen mein Leben mit wertvollen
Momenten zu füllen. Es ändert nur leider nichts an meiner Situation. Etwas Schönes mit meiner Familie, meinen Freunden oder auch nur für mich zu unternehmen und zu erleben, so „normal“ und eigenständig wie möglich, dass ist das, was mir am Ende die Kraft gibt. Wenn die Schmerzen übermächtig zu werden scheinen, visualisiere ich Augenblicke und Erlebnisse. „Jetzt sind die Schmerzen unerträglich – aber ich war dabei!“. Es ist vielleicht nicht ein „jetzt erst recht“, aber vielleicht ein „i’m alive and kicking“. Und ich bin mir sicher, dass da noch so einiges auf mich wartet, was ich sehen und miterleben möchte.
Via Instagram berichtest Du aus eurem Leben in Schweden und zeigst so wunderschöne
Bilder, dass mich immer das Fernweh packt. Zudem hast Du eine Reihe von Posts zum Thema
„Schweden verstehen“, die ich sehr unterhaltsam und informativ finde. Was, würdest Du sagen, sind
die größten Unterschiede zwischen dem Leben in Schweden und dem in Deutschland?
Was für eine gute und zugleich schwierige Frage! Ich bin vielleicht einfach schon zu lange hier, um
Unterschiede objektiv herauszuarbeiten. Ich bin aber für Vieles hier persönlich sehr dankbar. Wie
z.B. den Platz und die unberührte Natur um uns herum, das Schulsystem von dem unsere Kinder
sehr profitieren, dass Kinder hier eine Lobby haben und Familie vor Arbeit kommt darf, wir mit
der Digitalisierung so weit sind, unsere Steuerbehörde, deren Slogan „Es muss einfach sein, es richtig zu machen!“ Programm ist und eine Steuerklärung 10 min. dauert. Um nur Einiges zu
nennen…
Kannst Du anderen Frauen/Familien/Menschen, die gerne auswandern würden, etwas mit auf den
Weg geben?
Ich habe unter anderem mit Kindern von deutschen Einwandererfamilien gearbeitet. Die
Veränderung fiel nicht allen so leicht. Fremde Sprache, fremde Umgebung, man lässt Freunde
und Verwandte zurück. Je jünger die Kinder sind, umso müheloser finden sie sich in ihrem neuen
Leben zurecht. Und es ist auf jeden Fall hilfreich, wenn man mit (guten) Sprachkenntnissen ins Land kommt.
Liebe Tini, ich danke Dir sehr für Deine Offenheit und die sehr interessanten Einblicke in Dein Leben! Und wer jetzt nicht sofort Urlaub in der Bodastuga machen möchte… also ich könnte sofort die Koffer packen!
Euch hat das Interview gefallen? Weitere Gespräche mit spannenden Frauen findet ihr hier.
Schweden ist auch bei uns ein großer Traum;)