In Jakuta Alikavazovics Roman „Das Fortschreiten der Nacht“ geht es um eine Beziehung aus Liebe und Leid, die zwar nur wenige Jahre anhält, aber ein ganzes Leben lang nachwirkt.
(Werbung, da Rezensionsexemplar)
Der aus einfachen Verhältnissen stammende Paul arbeitet neben seinem Studium als Portier in einem Hotel, das einer weltweiten Kette angehört. Des Nachts bewacht er die Monitore am Empfangstresen und wird dabei zum Zeugen einer beinah ereignislos vergehenden Zeit. Doch manchmal erscheint eine junge Frau auf den Kamerabildern, die als Dauergast eines der Hotelzimmer bewohnt. Ihr Name ist Amélia Dehr und selbstredend hört Paul einige wilde Geschichten und Gerüchte über das, was sich womöglich hinter ihrer Zimmertür abspielt, womit das Interesse des jungen Mannes endgültig geweckt ist. Paul und Amélia werden ein Paar und ihre Beziehung ist schon bald von einer solchen Intensität, dass sie sowohl bei Tage als auch bei Nacht alles miteinander zu teilen scheinen und sich wortlos aufeinander eingespielt haben. Doch Amélia ist so anders, unberechenbar und eigen in ihrem Denken und Handeln, dass Pauls Angst, sie plötzlich und unerwartet zu verlieren, eines Tages Realität wird. Das mittlerweile gemeinsam bewohnte Hotelzimmer ist plötzlich leer und von Amélia fehlt jede Spur, auch die eines Abschieds oder (vorerst) letzter Worte an Paul. Dass dieser zutiefst verletzt ist und sich in den darauffolgenden Lebensjahren auch entsprechend verhält, erscheint kaum verwunderlich, und so macht Paul eher nebenbei eine außerordentliche Karriere als Architekt. Eines Tages ist Amélia jedoch wieder da und kehrt mit voller Wucht in Pauls Leben zurück, in dem sie erneut so gravierende Spuren hinterlassen wird, als hätte es ihre mehrjährige Flucht nie gegeben.
Ganz entscheidend ist in diesem Roman nicht nur die Beziehung der Hauptfiguren zueinander, sondern es ist ein ganz besonderes Klima, vor dessen Hintergrund hier agiert wird. Obwohl große Teile des Romans in Paris spielen, sind es die Jahrzehnte später fortwirkenden Schrecken des Jugoslawienkrieges, die mit Amélias seltsamem Verhalten in Verbindung stehen. Ihre Mutter nämlich stammt aus Sarajewo und versuchte sich an einer Form der dokumentarischen Dichtung, mit der sie die Qualen eines Landes und seiner Bevölkerung im Krieg festzuhalten suchte. Dieser Anspruch war ihr Lebensinhalt und daher nicht möglich, Amélia zugleich eine anwesende Mutter zu sein, da die Angsträume, gefährlichen und brutalen Orte der Welt sie immer wieder zu sich zogen.
Dass bestimmte Erfahrungen oder gar Traumata nicht mit dem Verschwinden einer Person enden, sondern an die Nachkommenden weitergegeben werden, davon erzählt Jakuta Alikavazovics Roman, der seine Figuren mehrere Jahrzehnte lang begleitet und immer wieder in die Vergangenheit zurückblendet. Manchmal sind die Zusammenhänge dabei nicht ganz einfach aufzulösen, denn es ist nicht immer direkt klar, was bspw. die französische Gegenwart Pauls mit den Erfahrungen von Amélias Mutter zu tun haben will. Doch Paul baut nicht irgendwas, er ist ein weltweit gefragter Experte, der sich mit Fenstern auskennt, der wohl verwundbarsten Stelle von Häusern. Ihn persönlich interessieren Panikräume ganz unterschiedlicher Art sowie die möglichst exakte Kalkulation von Risiken und das Schaffen privater Sicherheiten. Es sind existenzielle Grundthemen, mit denen sich alle Figuren des Romans auf ihre eigene Weise auseinandersetzen und zur alles entscheidenden Frage wird, ob sich ein Weg findet, zwischen den Territorien der Angst so etwas wie ein Leben zu errichten.
Jakuta Alikavazovic: Das Fortschreiten der Nacht. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Sabine Mehnert.
Edition Nautilus: Hamburg 2019.
256 Seiten. 22,00 Euro.
ISBN: 978-3-96054-098-4.
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