Heute darf ich euch erneut einen Gastartikel vorstellen und muss gestehen, dass ich mich wahnsinnig auf diesen Text gefreut habe. Die Verfasserin ist Lisa Brammertz, die ihr auf Instagram unter @lisa_liest finden könnt. Dort gibt es neben Buchbesprechungen und Texten rund um Bücher und das Lesen auch ihre sehr tollen Buchphotos und die sonntägliche Literatursprechstunde, in der Lisa sich verschiedenen Texten, Motiven und Themen der Weltliteratur zuwendet. Schaut unbedingt mal bei ihr vorbei, es lohnt sich sehr!
Viele Märchen kennzeichnen sich durch ihre fantasievollen Elemente und Bilder, doch auch gesellschaftliche Grundstrukturen, allen voran die der Familie, finden Einzug, um dem Leser vertraute Konzepte an die Hand zu geben. Für Märchen ist es ganz typisch, Motive des Alltags zu verwenden oder umzugestalten und so ist es sicher nicht verwunderlich, dass Mütter und Stiefmütter ihren Platz im Märchen gefunden haben.
Die böse Stiefmutter ist neben der Hexe eine der am häufigsten vorkommenden europäischen Märchenfiguren und treibt als Gegenspielerin der Heldin (selten des Helden) die Handlung maßgeblich voran. Die Stiefmutter und die Hexe werden als negatives Frauenstereotyp häufig gleichgesetzt, da die Stiefmütter in einigen Fällen mit Zauberkünsten ausgestattet wurden. In einer späteren Version des Märchens Hänsel und Gretel haben die Kinder die Hexe getötet und können nach Hause zurückkehren. Das Märchen schließt an dieser Stelle mit dem Hinweis, dass sie nun nichts mehr zu befürchten hätten, da die Stiefmutter tot sei. Ebenso vergiftet die Stiefmutter den Apfel, der Schneewittchen in den ewigen Schlaf versetzt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Neben der bösen Stiefmutter bleibt der liebende Vater häufig nur eine blasse Gestalt im Textgefüge. So scheint das Konzept des Bösen im Märchen ein vornehmlich weiblich geprägtes Phänomen zu sein, denn ein männliches Pendant, wie den bösen Stiefvater, gibt es nur selten. Ein Beispiel dafür wäre in Der Teufel mit den drei goldenen Haaren zu finden. Auch sind es häufiger die Stieftöchter als die Stiefsöhne, die unter der Tyrannei der Stiefmutter leiden müssen. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist sicherlich Schneewittchen. Zahlreicher als diese direkte Konkurrenz zwischen Stiefmutter und -tochter ist jedoch die Rivalität zwischen den Stiefgeschwistern, wenn die Stiefmutter selbst Kinder mit in die Patchwork-Familie bringt. Berühmte Beispiele hierfür sind Aschenputtel und Frau Holle von Grimm oder die Feen von Charles Perrault.
Doch woher kommen all die bösen Frauen überhaupt und hat es sie schon immer gegeben? In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird die Stiefmutter häufig als eine Verkörperung der bösen Anteile der leiblichen Mutter interpretiert, da es in älteren Märchenversionen kaum Stiefmütter gab. In vielen Urversionen der Grimmschen Märchen waren demnach die heute bekannten Stiefmütter noch leibliche Mütter. Erst im Zuge der Romantik bildete sich der Typus der bösen Stiefmutter heraus, da die Figur der bösen Mutter einer der größten Kritikpunkte an den Märchen abbildete. Es war unvorstellbar, dass eine leibliche Mutter ihre eigenen Kinder einsperrt, tötet oder gar aufisst und widersprach somit völlig dem vorherrschenden Idealbild der Mutter im 19. Jahrhundert. In der frühen Version von Hänsel und Gretel war es noch die Mutter selbst, die die Kinder im Wald aussetzen lässt und damit ihr Schicksal besiegelt.
Nach dem Einzug der Stiefmutter in die Märchen wurde es gängige Praxis, die leibliche Mutter früh versterben zu lassen. Obwohl sie also scheinbar noch vor der Haupthandlung aus den Geschichten verschwindet, spielt sie trotzdem weiterhin eine wichtige Rolle. Bei den Töchtern handelt es sich stets um Wunschkinder, die bis zum Erscheinen der Stiefmutter in einer glücklichen und wohlbehüteten Umgebung aufwachsen. Außerdem nimmt die Mutter selbst häufig aus dem Jenseits Kontakt zu der Tochter auf und schützt das Kind so über den Tod hinaus. Demnach scheint es die Blutsverwandtschaft bzw. der (vermeintlich) ‚natürliche‘ Mutterinstinkt zu sein, der die Kinder schützt oder bei Nichtvorhandensein wiederum ihr Schicksal besiegelt. Es fällt auf, dass die leibliche Mutter in den überarbeiteten Fassungen nicht nur eines frühen Todes stirbt, sondern dass auch die Stiefmutter immer zu einem ähnlichen Zeitpunkt in die Geschichte eintritt. Es ist stets die beginnende Pubertät, wodurch sie unabsichtlich zu Rivalinnen der Stiefmutter werden. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Schneewittchen, welches die alternde Königin in Bedrängnis bringt und ihr den Thron streitig macht.
Bleibt man bei der Betrachtung der 200 KHM (Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm), so lassen sich insgesamt 14 Stiefmütter identifizieren, wobei in den späteren Versionen wesentlich mehr hinzukamen. Die Rolle der bösen Stiefmutter schien den Lesern zu gefallen und so wurden aus den verachtenswerten, hartherzigen Müttern die bösartigen Stiefmütter. In der Gegenwart der Grimms waren Stiefmütter keine Seltenheit, anders als noch in der Vergangenheit. Ursache dafür waren Krankheiten wie das Kindbettfieber, das verstärkt im 19. Jahrhundert auftrat, als die Kinder vermehrt im Krankenhaus und nicht mehr daheim zur Welt gebracht wurden. In den Krankenhäusern waren die Hygienestandards unzureichend und führten so zu einer erhöhten Sterblichkeitsrate.
Alles nur schwarz oder weiß?
Anhand der Differenzierung lässt sich gut erkennen, dass Märchen immer strikt zwischen Gut und Böse trennen. Doch wieso gibt es keine Grauzone? Im Märchen geht es nicht um die Individualität, die Figuren sollen eindeutig greifbar sein. In diesem Sinne sind Figuren wie die gute Prinzessin oder die böse Stiefmutter Typen, die das Märchen herausgebildet hat und für seine Zwecke überzeichnet. Im Rahmen dessen wird das Böse immer auf gewisse Art und Weise abstrakt dargestellt, um es zu reduzieren und es für die Leser aushaltbar zu machen.
Interessant ist, dass sich das Motiv bzw. der Typus der bösen Stiefmutter in den Märchen verschiedenster Völker findet, denn die Grundlagen der Gemeinschaft sind in allen Völkern gleich. Sie sind auf menschliche Urbeziehungen ausgerichtet, wodurch die Beziehung zwischen Mutter und Kind oder Mann und Frau zu beliebten Grundlagen für Motive im Märchen wurden. Vor allem in europäischen Märchen steht die Kleinfamilie im Fokus, sodass die Rolle der Stiefmutter eng mit ihrer gesellschaftlichen Stellung verknüpft wird und sich u.a. durch die hohe Sterblichkeitsrate zu einem wichtigen Element im Rahmen des Familienbundes empor hob.
Märchen von Grimm, in denen Stiefmütter vorkommen:
- (1) Die zwölf Brüder (KHM 9), wobei es hier eigentlich die Schwiegermutter ist, die aber als böse Stiefmutter benannt wird
- (2) Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11)
- (3) Drei Männlein im Walde (KHM 13)
- (4) Hänsel und Gretel (KHM 15)
- (5) Aschenputtel (KHM 21)
- (6) Das Rätsel (KHM 22)
- (7) Frau Holle (KHM 24)
- (8) Von dem Machandelboom (KHM 47), enthält den einzigen Stiefsohn
- (9) Die sechs Schwäne (KHM 49)
- (10) Sneewittchen (KHM 53)
- (11) Der liebste Roland (KHM 56)
- (12) Die weiße und die schwarze Braut (KHM 135)
- (13) Das Lämmchen und das Fischchen (KHM 141)
- (14) Die wahre Braut (KHM 186)
- Weitere Märchen:
- Väterchen Frost – Alexander Afanasjew
- Die wilden Schwäne – Hans Christian Andersen
- Das verlorene Lied – Manfred Kyber
- Das Siefmütterchen – Louise Anklam
- Das Schlangenkind – albanisches Märchen
Autorin: Lisa Brammertz. Mehr von Lisa gibt es auf Instagram unter @lisa_liest.