Johannes V. Jensens „Himmerlandsgeschichten“
(Werbung, da Rezensionsexemplar)
Das dänische Himmerland ist eine Halbinsel im Norden Jütlands und doch ist es die ganze Welt. Der dänische Literaturnobelpreisträger Johannes V. Jensen erzählt in seinen erstmals 1904 erschienenen „Himmerlandsgeschichten“ von Land und Leuten dieser Region. Es gelingt ihm, einen ganz eigenwilligen Stil für diese Erzählungen zu finden, der haargenau zu den Menschen und ihrem Dasein zu passen scheint. Jensen greift einen besonderen Moment aus dem Leben seiner Figuren heraus und nimmt diesen zum Anlass, um davon zu erzählen, wie sie aufgewachsen sind, wie ihr Leben verlaufen und meist auch, wie es zu Ende gegangen ist. So entstehen nicht bloß situative Eindrücke, sondern in sich abgeschlossene Geschichten, die nicht erklären, interpretieren oder psychologisieren wollen. Es wird davon erzählt, was sich zugetragen hat und das Warum ergibt sich zwangsläufig oder es ergibt sich manchmal auch eben nicht.
Die meisten dieser Menschen haben das Himmerland zeitlebens kaum verlassen und sie fügen sich in die von Jensen so eindrucksvoll geschilderte Landschaft, als gehörten sie ausschließlich dorthin und als wäre es unmöglich, sie zu verpflanzen. Da ist zum Beispiel die Magd Martine, der nach dem alljährlichen Johannisfeuer etwas so Schreckliches widerfährt, dass sie vor Scham am liebsten sterben würde. Da sind Kinder, die plötzlich von der Neugierde auf fremde Welten und exotische Tiere gepackt werden, die an einem Sommerabend im Gras einschlafen und am nächsten Morgen so selbstverständlich und frisch erwachen, als wären die Hügel schon immer ihre Schlafstätte gewesen. Da sind Liebende, die nicht zueinander finden, und die sich stattdessen jahrzehntelang damit befassen, sich aus dem Weg zu gehen. Da sind jährlich wiederkehrende Feiern, bestimmte Riten wie Hochzeiten, Geburten und Begräbnisse und da sind Schneestürme und Jahreswechsel, denn Jensen nimmt seine Leserinnen und Leser mit durch ein dynamisches Jahr.
Innen ist Außen
Die Menschen in „Himmerlandsgeschichten“ sind Bauern oder Handwerker und sie sind dies durch und durch und folgen dem Weg, der ihnen vorgezeichnet wurde, bis zuletzt. Das Bemerkenswerte ist, dass die Charaktere so eindrucksvoll nachwirken, obwohl wir kaum etwas darüber erfahren, was in ihrem Inneren vorgeht, denn Gedanken oder gar Gefühle kommen nur durch Handlungen zum Ausdruck, werden aber nicht eigens thematisiert. Es scheint dabei aber nicht so, als wären die Himmerländer innen hohl, im Gegenteil: Jensens Geschichten erzählen von Menschen, deren Innenleben so vollständig mit ihrem Tun und mit der sie umgebenden Außenwelt übereinstimmt, dass es nur eine Antwort auf die Frage, was wir hier sehen, geben kann: Den ganzen Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Wer die gefeierten Romane von Robert Seethaler mochte, findet in Jensen einen Meister im Beschreiben des einfachen Lebens und mit Ulrich Sonnenberg einen Übersetzer, der Jensens Sprache in ein Deutsch verwandelt hat, das aus „Himmerlandsgeschichten“ eine so kraftvolle wie fein geschliffene Lektüre macht, die den Zauber des Vergangenen aufleben lässt.
Johannes V. Jensen: Himmerlandsgeschichten. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Guggolz Verlag 2020.
ISBN 978-3-945370-24-7, Preis: 22,00 Euro.
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