Leïla Slimanis Roman „All das zu verlieren“ erzählt von der verzweifelten Suche nach Erlösung
(Werbung, da Rezensionsexemplar)
Die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani stand schon länger auf meiner Leseliste, denn ihr Roman „Dann schlaf auch du“, der im französischen Original 2016 den renommierten Prix Goncourt gewonnen hat, interessierte mich brennend. Doch während des Wochenbetts wollte ich – genauso wenig wie in der Schwangerschaft – eher keine Geschichte lesen, in der Kinder den falschen Personen anvertraut werden und das Ganze dramatisch endet. Also entschied ich mich für „All das zu verlieren“, Slimanis Debütroman aus dem Jahre 2014, der nun auch auf Deutsch vorliegt. Ich begann zu lesen und – um das Gute schonmal vorwegzunehmen – geriet in einen angenehmen Sog, sodass ich das Buch schon am nächsten Tag beendet hatte. Doch was hatte ich da eigentlich gerade gelesen?
Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Pariser Journalistin Adèle, der es vordergründig an nichts mangelt: Sie hat einen begehrten Job, einen Sohn, eine schöne Wohnung in der Nähe von Montmartre und einen Mann, der als Chirurg arbeitet. Doch man ahnt es schon: Unter der Oberfläche sieht es ganz anders aus und genau darum geht es in Slimanis Roman. Adèle nämlich hat eine Obsession, der sie unbedingt nachgeben muss, weil sie sonst unter geradezu körperlichen Entzugserscheinungen leidet, die es ihr unmöglich machen, die alltägliche Fassade aufrecht zu erhalten. Adèle ist süchtig nach Sex und natürlich nicht nach dem mit ihrem Mann, denn es ist für sie am aufregendsten, wenn die Männer ihr möglichst unbekannt sind und sie sich ‚danach‘ auch wieder als Fremde trennen können. Sie ist nicht auf der Suche nach einer Affäre, möchte keine Verbindung eingehen und auch nicht dauerhaft aus ihrem Leben fliehen, sondern immer nur stundenweise, wenn es Adèle schlicht übermannt und sie nicht mehr anders kann, als sich auf das Spiel aus Verführung, Anziehung und Hingabe einzulassen. Dabei geht es ihr besonders um den Kick des Eroberns, denn es sind auch zahlreiche Männer darunter, die Adèle nur deswegen haben muss, weil sie sich beweisen will, dass sie sie tatsächlich haben kann. Eines der Probleme dieses wohlorganisierten Doppellebens ist, dass die Abstände zwischen Adèles Abenteuern immer kürzer werden und so scheint die Katastrophe beinahe vorprogrammiert. Der Sex, den sie sucht, soll hart sein, manchmal regelrecht brutal, und so wimmert und fleht Adèle darum, endlich nichts mehr zu spüren – außer stumpfem körperlichem Schmerz.
Erlösung und Auflösung
Adèle sucht nach Erlösung und findet diese momentweise im aggressiven Sex, doch es sind stets nur kurze Augenblicke, in denen sich das, vor dem sie flieht, tatsächlich aufzulösen vermag. Das Paradoxe ist, dass sie deswegen noch lange keine Draufgängerin wäre, sondern ganz im Gegenteil: Adèle fürchtet sich eigentlich vor allem und hat panische Angst davor des Nachts auf den Pariser Straßen unterwegs zu sein, aber nicht davor, fremden Männern in dunkle Gassen oder abgelegene Wohnungen zu folgen.
Soweit so gut und auch keineswegs uninteressant, doch woher kommt Adèles Verlangen und wie geht es weiter mit Slimanis Hauptfigur? Geht sie unter, ‚überwindet‘ sie ihre Sucht oder läuft alles einfach so weiter und hat ein offenes Ende? Tatsächlich entscheidet sich Slimani für eine Mischung aus zwei der genannten Varianten und da liegt für mich das Problem, das ich mit dem Roman im Nachgang hatte: Denn Adèle ist keinesfalls eine hungrige femme fatale, sondern eine gelangweilte Kostverächterin, die ihre äußerliche Zerbrechlichkeit kultiviert und die zeitweise rätselhaft wirkt, auch weil sie kaum spricht. Doch die Grenze zwischen mysteriösem Schweigen und nichts zu sagen haben ist fließend, und so verstärkt sich mehr und mehr der Eindruck von Adèle als einer Frau, die sich einfach für nichts zu interessieren vermag und sich deshalb auf möglichst stumpfe Penetrationen einlässt.
Sicherlich ist das ein nicht ganz faires und auch ein wirklich küchenpsychologisches Urteil, aber mich ärgert, dass Adèle als Opfer ihrer Triebe gezeigt wird. Denn genau dieser weibliche Figurentypus hat Tradition – auch und besonders in der französischen Literatur. Hysterische Weiblichkeit wird gebunden an die Hysterie des Geschlechts und an ein irgendwie abnormes sexuelles Verhalten, wobei die Protagonistin eben nicht als planvoll, durchtrieben oder gar böse vorgestellt wird, sondern sie selbst leidet wohl am meisten unter dem Diktat ihres unaufhörlich fordernden Unterleibs. Das erinnert enorm an die Frauenfiguren der Literatur um 1900 (egal ob Naturalismus, Realismus oder Expressionismus), die sich gedankenlos dem Laster hingeben und damit ihrer eigentlichen ‚Natur‘ folgen, indem sie den Bedürfnissen ihrer Körper nichts entgegenzusetzen haben und es überhaupt kein selbständiges Denken oder Wollen gibt, sondern ausschließlich bloßes animalisches Verlangen. Adèle also hätte durchaus ein bisschen mehr Gefallen an der Zerstörung finden dürfen und es wäre auch nicht schlecht gewesen, wenn sie als eine klügere Frau aufgetreten wäre, die sich trotz oder gar wegen ihres Verstandes für den Untergang entscheidet.
Fazit: „All das zu verlieren“ ist ein Roman über eine Frau zwischen Tristesse und Verzweiflung, der zwar lesenswert, aber sicher kein großer Wurf ist.
Leïla Slimani: All das zu verlieren. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma.
Luchterhand Literaturverleg: München 2019.
224 Seiten, 22,00 Euro.
ISBN: 978-3-630-87553-8
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