Nur noch elf Minuten
Lize Spits neuer Roman „Ich bin nicht da“ erzählt aus der Perspektive von Leo, die seit über zehn Jahren mit ihrem Freund Simon zusammen ist, von der rasend schnellen Entwicklung einer psychischen Krankheit. Das Paar lebt mit Katze Daan im Zentrum Brüssels, wo Simon in einer Kreativagentur und Leo in einem Geschäft für Schwangerschaftsmoden arbeitet. Während Simon seiner Leidenschaft fürs Zeichnen nachgeht, ist Leo bei einer ursprünglich als Nebenjob gedachten Arbeit hängen geblieben, denn eigentlich will sie schreiben.
Der Mittelpunkt im Leben
Der Mittelpunkt im Leben der beiden ist jedoch nicht die jeweils eigene Karriere, sondern die Beziehung zueinander, die sehr intensiv ist: Sowohl Leo als auch Simon haben früh ihre Mutter verloren und die damit einhergehende Trauer hat eine tiefe Verbindung geschaffen. Leos Gedanken kreisen nahezu unentwegt um Simon, um sein Wohlbefinden und auch recht vage um Pläne für eine gemeinsame Zukunft.
Das über Jahre aufgebaute Gleichgewicht gerät jedoch enorm ins Wanken, als Simon eines Nachts mit einer seltsamen Tätowierung hinter dem Ohr nach Hause kommt, seinen Job kündigt und überaus euphorisch neue berufliche Wege einschlagen will. Was bereits manisch beginnt, entwickelt sich schnell zu einem sehr bedrohlichen Zustand und Leo muss sich eingestehen, dass sie Simon allein nicht helfen kann.
„Und es schmilzt“
Bereits Lize Spits ersten Roman „Und es schmilzt“ konnte ich kaum aus der Hand legen, weil ihr Stil so einnehmend ist, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weiter geht. Umso gespannter war ich auf „Ich bin nicht da“ und auch hier gelingt der 1988 in Flandern geborenen Autorin ein ungeheurer Spannungsaufbau. Denn der Roman beginnt mit folgender Kapitelüberschrift: „Noch elf Minuten, im Geschäft“. Wir erfahren sofort, dass sich eine Katastrophe anbahnt und dass Leo noch genau diese elf Minuten bleiben, bis sie wissen wird, was tatsächlich geschehen ist.
Noch schneller lesen
In der zweiten Hälfte des Buches habe ich mir gewünscht, noch schneller lesen zu können, weil ich unbedingt wissen wollte, was Leo am Ende erwartet und einen plot zu entwerfen, der so in seinen Bann zieht, ist grandios! Mein einziger Kritikpunkt an Lize Spit bezieht sich – insbesondere am Anfang – auf die Schilderungen der Beziehung zu Simon, aber es ist ein sehr persönliches Empfinden: Mich stören die breit gestreuten ‚Beweise‘ für die nahezu grenzenlose Nähe des Paares, in der es mir allzu oft um verschiedene Körperausscheidungen geht. Was hier als Beleg für Intimität gelten soll, ist für mich ästhetisch anstrengend bis unangenehm und ich hätte Leo ihre Liebe auch ohne den x-ten Verweis auf Bauchnabelinhalte und andere Körperverstecke geglaubt.
Unnachahmlich gut
Worin ich Lize Spit unnachahmlich gut finde, das ist ihr schonungsloser, aber nie brutaler, sondern im Gegenteil sehr mitfühlender Blick auf die Wunden und Verletzungen, die ein jeder mit sich herumträgt, die aber dennoch so verschieden tief sind.
Sie findet sprachliche Bilder und Vergleiche, welche intensiv verdeutlichen, wie groß Leos Einsamkeit war, bevor sie Simon traf. Simon, der jetzt nicht mehr derselbe ist, der immer weiter abdriftet und nur noch eine Simon-Hülle zu sein scheint, egal wie sehr Leo sich auch anstrengt.
„Ich bin nicht da“ ist ein richtig, richtig guter Roman und für mich eines der besten Bücher, das ich in diesem Jahr gelesen habe.
Lize Spit: Ich bin nicht da. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. S. Fischer Verlag. ISBN: 978-3-10-397124-8, 576 Seiten. Preis: 26,00 Euro.
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