In „Gezeitenwechsel“ von Sarah Moss dreht sich alles um den einen Moment, der eine Familie für immer verändert
(Werbung, da Rezensionsexemplar)
Die schottische Schriftstellerin Sarah Moss erzählt die Geschichte von Adam Goldschmidt, der zusammen mit seiner Frau, einer Allgemeinärztin, und den gemeinsamen Töchtern in einem Vorort von Coventry lebt. Adam ist promovierter Kunsthistoriker und der Universität zwar noch durch gelegentliche Lehrtätigkeiten verbunden, eine richtige Karriere hatte er aber weder dort noch anderswo je ernsthaft angestrebt. Stattdessen kümmert er sich um die Kinder, den Haushalt und die vielen Belange des Alltags, während seine Frau sechzig Stunden pro Woche außer Haus arbeitet und damit das Familieneinkommen sichert. Doch plötzlich gerät das eingespielte Leben der Familie aus den Fugen: Denn Miriam, erstgeborene Tochter und mittlerweile fünfzehn Jahre alt, hört plötzlich auf zu atmen. In diesem Moment, der alles verändern wird, hängt ihr Leben am seidenen Faden, aber ein beherzter Ersthelfer tut genau das Richtige und so überlebt Miriam den Vorfall, der auch nach mehreren Wochen im Krankenhaus mit zahllosen Untersuchungen nicht restlos aufgeklärt werden kann. Was bleibt, ist die Angst, dass Miriams Körper erneut auf diese Weise reagieren bzw. ausfallen könnte und so beginnt für Adam eine Spurensuche in der eigenen familiären Vergangenheit.
Wer nun annimmt, dass es in „Gezeitenwechsel“ hauptsächlich um Krankheit, Tod und Eheprobleme geht, der liegt zwar nicht ganz falsch, aber damit würde man dem Roman und der großartigen Erzähltechnik von Sarah Moss längst nicht gerecht. Denn obwohl die zentralen Themen des Buches sicher keine heitere Kost sind, kann Moss davon so lebensecht, menschlich und warmherzig erzählen, dass aus dem Schicksal der Goldschmidts ein wirklich berührendes Buch wird, ohne dabei in irgendeiner Weise pathetisch oder kitschig zu sein. Im Gegenteil: Adam hat sich für die Rolle des Hausmannes entschieden, weil es vollkommen egal ist, ob die Person, die die Hausaufgaben der Kinder betreut, die kocht und die Wäsche macht, männlich oder weiblich ist, sondern wichtig ist, dass es sie gibt. Doch trotz seiner Gelassenheit muss Adam sich im Schwimmbad von Müttern kritisch beäugen lassen, die anscheinend noch nie einen Vater gesehen haben, der auf schwimmende Kinder aufpasst und der sich, schlicht weil er keine Frau ist, durch seine pure Anwesenheit verdächtig macht. All das geschieht, während Emma lieber Überstunden anhäuft und sich auch in den wenigen Stunden zu Hause bevorzugt mit Arbeit umgibt. Natürlich ist das ein Grund für Missmut seitens Adam, doch Moss erzählt davon ohne die Verwendung klassischer Schubladen, da Adam genauso wenig ein gefrusteter Hausmann ist, wie Emma eine karriereorientierte ‚Rabenmutter‘, sondern beide tun eben das, was sie am besten können und womit sie sich am ehesten zurechtfinden.
Luftangriff auf Coventry
Nach Miriams Unfall ist von dem vorher gelebten Alltag kaum noch etwas übrig und der Roman erzählt auch von den Schwierigkeiten derer, die zwar für den Moment noch einmal davongekommen sind, die aber ganz genau wissen, dass sich alles im nächsten Augenblick ändern kann, weil ihnen der Schrecken über die Unvorhersehbarkeit des Lebens noch tief in den Knochen steckt. Sarah Moss ist es gelungen, nicht nur unheimlich sympathische Figuren zu erschaffen, sondern auch innere Monologe zu formulieren, die klug und witzig zugleich sind – was in der deutschen Übersetzung sicher auch der Verdienst von Nicole Seifert ist. Denn in Adams Kopf passiert eine ganze Menge und während er äußerlich damit beschäftigt ist, sein Leben und das seiner Familie neu zu ordnen, denkt er immer wieder über die Luftangriffe auf Coventry im November 1941 nach, freilich auch, um sich von den eigenen Ängsten und Befürchtungen abzulenken. Stilistisch erinnert der Aufbau des Romans mit dieser Gegenüberstellung historischer Katastrophen und persönlicher Schicksalsschläge an gleich mehrere Romane W.G. Sebalds, der hier an einer Stelle auch konkret erwähnt wird.
Sarah Moss ist ein wunderbar erzählter Roman über die Zerbrechlichkeit alltäglicher Gewissheiten gelungen und sie verfügt über die Gabe, ebenso geistreich wie unterhaltsam zu schreiben und das tatsächlich bis ganz zum Schluss. „Gezeitenwechsel“ ist somit ein Lesetipp mit Nachdruck und für mich sogar eins der Bücher, das man, wenn man es zu Ende gelesen hat, direkt vermisst und sich damit behilft, alle anderen Bücher der Autorin umgehend zu bestellen.
Sarah Moss: Gezeitenwechsel. Aus dem Englischen von Nicole Seifert.
mareverlag 2019.
ISBN: 978-3-86648-281-4.
Preis: 24,00 Euro.
Dies ist der Link zur Seite des Romans bei mare.