(Werbung, da Rezensionsexemplar)
Es gibt Schriftsteller, denen wird regelmäßig vorgeworfen, sie würden immer wieder das gleiche Buch schreiben. Meist richtet sich diese Kritik auf die Inhalte der gemeinten Romane, die sich zu sehr ähneln würden. Ein Autor, dem dies wohl kaum unterstellt werden kann, ist Thomas Hettche, denn die Themen seiner Romane sind unheimlich vielfältig und jedes Mal aufs Neue eine echte Überraschung. Hettches aktuelles Buch „Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste“ changiert zwischen der Entstehungszeit des Marionettentheaters mitten im Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart. Vertraut ist daran, dass Hettche sich historischen Ereignissen und Figuren widmet, um deren Geschichte zu erzählen, und dieser mit den Mitteln der Fiktion neues Leben einzuhauchen.
Ähnlich verfahren ist der Autor bspw. auch in seinem Kriminal- und Gesellschaftsroman „Der Fall Arbogast“ und in „Die Pfaueninsel“, dem Roman über die kleinwüchsige Hofdame Marie, den man sich nicht oft genug ins Gedächtnis rufen kann. Auch dieses Jahr hat Hettche es wieder auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft und vielleicht sollte man ihm diesen nun endlich mal verleihen, denn insgesamt war er bereits viermal dafür im engeren Gespräch und verdient hätte er ihn allemal.
Die Geburtsstunde der Puppenkiste
Doch worum geht es nun eigentlich in „Herzfaden“? Es sind die Lebenswege zweier Figuren aus verschiedenen Zeiten, die sich kreuzen, so als würde die Gegenwart noch einmal die Chance bekommen, mit den Augen der Vergangenheit zu sehen, was uns bis heute prägt. Ein zwölfjähriges Mädchen hat sich hinter den Kulissen eines Theaters verlaufen, weil sie – in feinster Alice im Wunderland-Manier – eine Tür geöffnet hat, hinter der nicht nur andere Räume, sondern auch andere Zeiten auf sie warten. Genau dort macht sie Bekanntschaft mit einer rätselhaften jungen Frau namens Hatü und ihren Marionetten.
Hatü ist eigentlich längst tot, was sie jedoch nicht davon abhält, ihre Geschichte zu erzählen, die untrennbar mit den sie umgebenden Figuren und dem Theater, in dem sie sich gerade befinden, verbunden ist. Der Roman spielt hauptsächlich in Augsburg und Hatü ist der Kosename der Marionettenkünstlerin Hannelore Oehmichen, die gemeinsam mit ihrem Vater Walter eine Liebe zum Marionettenspiel entwickelt hat, woraus die Puppenkiste entstanden ist, die zunächst tatsächlich ein transportables Theater war.
Dieser erste Teil des Romans, über dem die Schrecken des Krieges und die fürchterlichen Ahnungen schweben, die mit den Deportationen jüdischer Menschen einhergingen, ist Hettche meisterlich gelungen. Er verbindet die stumme Angst der Kinder mit dem Schweigen der Väter und den Blicken der Mütter, die so vieles fragen wollen, sich aber nicht trauen, die Stimme zu erheben, weil sie fürchten, dass all ihre Ahnungen wahr sein könnten.
Eine kurze Flucht aus all dem Leid und der Angst ist für Walter Oehmichen nur mit Hilfe der Kunst möglich und die Marionetten erschaffen eine Theaterwelt im Kleinen, die sich nur vordergründig allein an Kinder richtet. Denn das erste Stück, das die Familie Oehmichen noch im heimischen Wohnzimmer aufführt, ist ausgerechnet „Hänsel und Gretel“. Wenn man sich die Handlung dieses recht grausamen Märchens in den Kopf ruft und sich dann vorstellt, wie die Kinder in den Ofen gelockt werden sollen, dann wird einem angst und bange, denn es ist 1942 und die Verbindung zwischen all dem entsteht nicht auf dem Papier, sondern in den Köpfen der Leserinnen und Leser.
Szenen aus dem Marionettentheater
Hettche montiert Szenen aus dem Marionettentheater, meint damit aber auch die große Weltenbühne und dieser Zusammenschluss ist ebenso erhellend wie literarisch eindrucksvoll. Hettches Sprache vermag es, den unsichtbaren Theatervorhang immer ein stückweit mehr zu lüften und so erfahren wir als Leserinnen und Leser nach und nach mehr über Hatüs Werdegang und damit auch über die Puppenkiste, wie sie ins Fernsehen und damit in unzählige Wohnzimmer und Kinderherzen kam. Ein weiteres Bindeglied zwischen den verschiedenen Erzählebenen ist die Figur des Kasperls, vor dem sich nicht nur Hatü als Kind fürchtete, sondern auch das junge Mädchen, das hinter den Kulissen der Puppenbühne ein ungeheures Abenteuer erleben wird.
„Herzfaden“ ist ein Roman, der ein Stück deutscher Geschichte aufgreift, um daraus Literatur zu machen, während zwischen den Zeilen über genau diesen Kunstgriff reflektiert wird. Und so geht es letztlich auch um die Möglichkeiten und Chancen der Kunst im Allgemeinen und ihr Verhältnis zu dem, was wir historische Realität nennen. Die Wirklichkeit also, die wir, so glaube ich, erst dann ‚richtig‘ verstehen werden, wenn wir sie durch das Kunstwerk betrachten.
Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Kiepenheuer & Witsch 2020. ISBN: 978-3-462-05256-5, 288 Seiten. Preis: 24,00 Euro.