Kyra Wilders Roman „Das brennende Haus“ erzählt von Erika, die mit ihrem Mann M und den beiden noch kleinen Kindern E und B aus den USA in die Schweiz zieht. Dort hat M einen reizvollen Job angeboten bekommen und da sie vereinbart hatten, dass Erika zu Hause bei den Kindern bleiben würde, war die Entscheidung schnell klar.
Noch am Genfer Flughafen wird M direkt nach der Landung von einem Wagen abgeholt, da er unverzüglich im Büro erwartet wird und rückblickend scheint es, als wäre bereits das der Moment, in dem die Weichen für alles Folgende gestellt werden. Denn in den kommenden Wochen und Monaten bekommen Erika und die Kinder M nur noch höchst selten zu Gesicht, es ist fast so, als hätte seine neue Arbeit ihn verschluckt. M versinkt in Arbeit, wird Tag und Nacht gebraucht, schläft oft sogar im Büro und beginnt sich immer mehr einzufinden in diesem neuen Leben, in dem Erika und die Kinder kaum mehr als Statisten sind.
Putzen, Säubern, Schrubben – bis die Haut sich ablöst
Erikas Alltag besteht aus Einkaufen, mit den Kindern spielen und beinah endlosen Stunden im Park gegenüber, in dem sie die anderen Frauen beobachtet, die am späten Nachmittag ebenfalls hektisch aufbrechen, um ihren schwer arbeitenden Ehemännern ein warmes Essen zu kochen. Doch an den meisten Abenden verkocht die Soße hinten auf dem Herd und Erika und die Kinder bleiben allein, weil M wieder etwas dazwischen gekommen ist. Erikas Französisch besteht bisher nur aus ein paar Brocken und so meidet sie die anderen Mütter, die sie nicht versteht, und hat kaum noch Kontakt zu erwachsenen Menschen. Erikas Welt sind die Kinder, die Bedürfnisse ihrer Tochter E und die ihres Sohnes B, und die kleine, aber höchst ordentlich und fein eingerichtete Wohnung, die ihr die Firma ihres Mannes zur Verfügung gestellt hat und die Erika dennoch jeden Moment über den Kopf zu wachsen droht.
Erika putzt und räumt auf, sie schrubbt jede Ecke der Wohnung auf Hochglanz, kauft Unmengen Obst und lässt es dann doch vergammeln. Sie verlegt ihre Schlüssel und findet dafür in der Nacht gelöste Fahrscheine in ihrer Jackentasche, die sie sich nicht erklären kann, weil Tag und Nacht, Wachen und Schlafen sich kaum mehr unterscheiden.
„Die Blutergüsse auf meiner Wange und dem Arm waren noch nicht ganz verblasst, aber im Dämmerlicht der Wohnung konnten sie als Schatten durchgehen, die das Laub der Dschungelbäume auf mein Gesicht warf. Wir konnten so tun, als wären die verstaubten Socken auf dem Boden die Augen von Krokodilen in einem schlammigen Fluss. Die Betten konnten unsere Flachboote sein, die über alles Mögliche hinwegglitten, das wir nicht sahen. Wir mussten die Wohnung gar nicht verlassen. Ich war nicht einmal sicher, ob ich meine Hände dazu bringen könnte, die Tür zu öffnen.“ (222)
Höhle oder Gefängnis?
Die Wohnung hat wunderbare Rollos, welche vor der immer stärker werdenden Hitze des Hochsommers schützen und die Wohnung ist rettende Insel, Schutzraum und Höhle zugleich – oder ist sie doch nur eine bessere Abstellkammer für Erika und ihre Kinder, letztlich ein überaus ordentlich eingerichtetes Gefängnis?
Von Kapitel zu Kapitel wird „Das brennende Haus“ bedrückender und Wilders Art zu schreiben verursacht einen ungeheuren Sog, der tief in Erikas Denken und Fühlen hinabführt. Die Lektüre dieses Romans ist ein Zusteuern auf die beinah unausweichliche Katastrophe und das spannendste Psychogramm einer innerlichen Verirrung, das ich seit Langem gelesen habe. Nur eine Frage bleibt darin für mich bis zum Schluss unbeantwortet: warum, um Himmels willen, hat M. denn nicht ein einziges Mal genau hingesehen?
Eine große, aufwühlende Leseempfehlung!
Kyra Wilder: Das brennende Haus. Aus dem Englischen von Eva Kemper. S. Fischer Verlage 2020. ISBN: 978-3-10-390010-1, 256 Seiten. Preis: 22,00 Euro.