Heute erscheint Nicole Seiferts Buch „Frauen Literatur“ bei Kiepenheuer & Witsch und ich freue mich sehr, dass ich das Buch vorab lesen und ein Interview mit Nicole führen durfte. Es geht um ihre Leidenschaft für Literatur, die Arbeit mit Büchern, ihren Werdegang und um die Frage der Stunde: Warum werden noch immer wesentlich mehr männliche Autoren gelesen, besprochen und öffentlich wahrgenommen? Und warum sollte diese Frage eigentlich uns alle beschäftigen?
Liebe Nicole,
Du arbeitest auf vielfältige Weise mit Büchern: Hast Vergleichende Literaturwissenschaften und Amerikanistik studiert, darin auch promoviert und nun liest und übersetzt Du Bücher, bist als Herausgeberin tätig, schreibst den Literaturblog „Nacht und Tag“ und nun erscheint heute Dein Buch „Frauen Literatur“ bei Kiepenheuer & Witsch.
Bei all Deinem Schaffen steht, so mein Eindruck, die Literatur von Frauen im Mittelpunkt und ich würde Dich nicht nur gerne meinen Leser:innen vorstellen, sondern auch darüber sprechen, was Literatur von Frauen gestern und heute sein kann und warum in den meisten Feuilletons, Buchhandlungen und Stundenplänen Bücher von Frauen weiterhin deutlich in der Unterzahl sind.
Hast Du schon immer viel gelesen und wie kam es, dass Du Dich besonders für weibliche Stimmen in der Literatur interessiert hast?
Ich habe tatsächlich schon immer viel gelesen und mich auch früh für weibliche Stimmen interessiert. Als Teenager haben vor allem die Schule und die Bibliothek meines Vaters beeinflusst, was ich lese – beides war von männlichen Autoren dominiert, was mir damals aber nicht bewusst war oder einfach normal erschien. Wenn ich selbst in die Buchhandlung gegangen bin, kam ich allerdings meistens mit Büchern von Autorinnen zurück, das waren zum Beispiel Simone de Beauvoirs Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, Die Farbe Lila von Alice Walker oder Briefe nach Hause von Sylvia Plath. Dieses Interesse zog sich durchs Studium und zeigt sich auch in dem, was ich schreibe und herausgebe. So richtig systematisch und programmatisch betreibe ich das fast ausschließliche Lesen der Literatur von Autorinnen aber erst seit drei Jahren. Seit mir bewusst wurde, dass Literatur von Frauen nicht nur unterrepräsentiert ist, sondern auch nach wie vor massiv abgewertet wird.
War Dir schon früh klar, dass Du Dich auch beruflich mit Literatur befassen möchtest?
Das wurde mir in der Oberstufe klar. Es interessierte mich einfach nichts anderes so sehr wie Literatur. Zu wissen, wofür ich lernen muss – nämlich für ein Literaturstudium – hat mir sehr geholfen, die notwendige Disziplin aufzubringen, auch für die Fächer zu arbeiten, die mich damals nicht interessierten.
Wie sieht Dein ‚normaler‘ Arbeitsalltag derzeit aus?
Da meine Tochter schon groß ist und momentan auf einem Internat, ist mein Alltag derzeit sehr von der Arbeit bestimmt, was ich sehr genieße, weil die Arbeit gerade großen Spaß macht. Mein Mann arbeitet momentan auch zu Hause, d.h. wir müssen den Wecker nicht stellen – ein unglaublicher Luxus –, sitzen aber trotzdem spätestens um neun an unseren Schreibtischen. Meistens übersetze ich dann erstmal ein paar Seiten und komme später am Tag zu den kreativeren, eigenen Projekten. Und dann muss ich ja auch viel lesen, das mache ich überwiegend abends.
Als Übersetzerin gibst Du den Gedanken und Sätzen anderer eine neue sprachliche Rahmung. Worauf kommt es Dir dabei besonders an – braucht es eine gewisse Distanz zum Text oder eher genau das Gegenteil? Ist Übersetzen eine andere Form von Autorschaft oder wie würdest Du diese aus meiner Sicht so spannende (und wichtige) Arbeit beschreiben?
Mir fallen die Texte am leichtesten, die mir sehr nahe sind. Deren Erfahrungswelt, deren Ton und Humor meinem entsprechen. Ich muss da sofort an Schlaflos von Sarah Moss denken, eins meiner absoluten Lieblingsprojekte. Die Protagonistin ist eine Wissenschaftlerin, die als Ehefrau und Mutter so eingespannt ist, dass sie kaum dazu kommt, sich an ihre Arbeit zu setzen. Diese Figur liebt ihre Kinder sehr (mit ihrem Mann ist sie in der Krise), hat aber eben auch viele Interessen, denen sie nicht nachgehen kann, weil sie die Sorgearbeit und die Hausarbeit fast allein macht. Die guten Beobachtungen, die Gedankenwelt, der trockene Humor – das hat mich auf allen Ebenen angesprochen, und dieser Text ging beim Übersetzen irgendwie nur so durch mich hindurch, ganz mühelos. Sicher braucht es außerdem eine professionelle Distanz, die kommt aber automatisch beim Überarbeiten, wofür ich unbedingt etwas zeitlichen Abstand brauche. Und dann gibt es ja zum Glück noch ein Lektorat.
Autorschaft würde ich für die von mir übersetzten Bücher auf keinen Fall beanspruchen, aber man wird natürlich zur deutschen Stimme der Autorin und das ist eine Verantwortung, die ich sehr ernst nehme und die auch gewürdigt gehört. Mich freut deshalb immer, wenn Verlage die Namen der Übersetzer*innen aufs Cover nehmen und ihnen auch sonst Wertschätzung entgegenbringen.
Von Sarah Moss, deren letzten Roman „Geisterwand“ ich verschlungen habe, hast du inzwischen schon sechs Bücher übersetzt. Verändert sich durch so eine langjährige Bindung der Blick auf die Texte?
Es ist für mich unheimlich toll zu sehen, wie Sarah Moss sich als Autorin weiterentwickelt. Ich kenne ihr Werk ja tatsächlich sehr gut, weil ich jedes ihrer Bücher mehrmals gelesen habe, und ich finde, sie wird immer besser. Es ist eine Autorin, der ich so sehr mehr Aufmerksamkeit wünsche. In England ist sie schon sehr bekannt, hierzulande lässt das leider noch auf sich warten.
Frauen Literatur
Heute, am 9. September, erscheint Dein Buch „Frauen Literatur“ bei Kiepenheuer & Witsch. Schon der Titel ist aussagekräftig, denn das Wort Frauen ist sehr bewusst durchgestrichen. Warum ist der Begriff Frauenliteratur eigentlich per se schon abwertend und gibt es überhaupt so etwas wie Männerliteratur?
Der Begriff „Frauenliteratur“ wird ja durchaus unterschiedlich benutzt, der gemeinsame Nenner ist aber die Annahme, dass es da um Frauenthemen geht. Um Dinge, die irgendwie nicht so wichtig sind, nicht so wichtig jedenfalls, dass Männer sie auch lesen sollten, könnten, müssten. Abgegrenzt wird das aber eben nicht von „Männerliteratur“, den Begriff gibt es ja gar nicht, sondern von Literatur im Allgemeinen. Es ist also von vornherein eine Abwertung damit verbunden. Virginia Woolf hat in „Ein Zimmer für sich allein“ schon vor hundert Jahren über die Unterteilung in vermeintlich wichtige und unwichtige Themen geschrieben – Krieg und Fußball gälten eben als wichtig, „Frauenthemen“ gälten als unwichtig. Daran hat sich schockierend wenig geändert. Auch wenn diese Aufteilung in die öffentliche Sphäre (die Welt der Männer) und die häusliche Sphäre (die Welt der Frauen) natürlich Jahrhunderte alt und nicht mehr zeitgemäß ist. Aber die damit verbundenen Vorurteile sitzen unglaublich tief, was man ja auch daran sieht, wie viele Männer bis heute davon ausgehen, Kinder und Haushalt wären Sache der Frau.
Weibliche Stimmen
Warum werden noch heute viel weniger weibliche literarische Stimmen gehört als männliche? Wo siehst Du besonderen Handlungsbedarf?
Ich glaube, das hat tatsächlich damit zu tun, dass diese Vorurteile so tief sitzen. Unsere Kinder lernen in der Schule ja immer noch, wie wir auch schon: Was literarisch wertvoll ist, stammt von Männern – allein dadurch, dass praktisch keine Autorinnen gelesen werden, dass ihr Werk nicht für wichtig erachtet wird. Im Feuilleton, da wo literarischer Wert zugeschrieben wird, werden immer noch nur zu rund einem Drittel Bücher von Frauen besprochen. Und wenn sie besprochen werden, geschieht das oft auf andere Weise als bei Männern, da geht es mehr um Persönliches oder Äußeres, und man liest immer noch regelmäßig so einen onkelhaften, herablassenden Ton. Da sind eigentlich alle im Literaturbetrieb gefordert, ihre Kriterien zu hinterfragen. Verlage könnten sich fragen, ob sie Autorinnen nicht besser präsentieren können, auf besseren Programmplätzen, mit weniger kitschigem Cover – eben literarischer, wo es angemessen ist. Kritiker*innen müssen, um Autorinnen angemessen besprechen zu können, die Traditionen kennen, in denen sie stehen, auch wenn Literatur von Frauen in Schule und Uni kaum vorkam. Da stelle ich immer wieder eklatante Wissenslücken fest, die den Kritikern oft gar nicht bewusst zu sein scheinen.
Wie steht es denn um die Schullektüren? Siehst Du da Veränderungen in der letzten Zeit?
In einzelnen Bundesländern stehen Juli Zeh oder Judith Hermann auf den Auswahllisten, das ist schön, aber natürlich noch längst keine strukturelle Veränderung. Ich sehe nicht, dass sich da wirklich etwas tut. Im Süddeutsche Magazin war dazu ein ausführlicher, sehr gut recherchierter Artikel von Simon Sales Prado, der nicht viel Hoffnung auf baldige Änderung gemacht hat. ( (Bezahlschranke): https://sz-magazin.sueddeutsche.de/literatur/frauen-literatur-schullektuere-88783?reduced=true)). Dabei müsste es genau da losgehen, und zwar dringend. Man kann in Deutschland immer noch Abi machen, ohne auch nur eine einzige Autorin gelesen zu haben. Was sollen unsere Kinder daraus schließen?
Gibt es auch positive Trends im Literaturbetrieb, die Du gern unterstreichen würdest?
Auf jeden Fall. In diesem Frühjahr waren die Verlagsprogramme zum Beispiel so divers wie noch nie, ich beobachte da eine Öffnung gegenüber Autor*innen of Color und auch gegenüber queeren Autor*innen. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob das wirklich eine Öffnung ist oder von den Verlagen eher als Trend bedient wird. Außerdem finde ich toll, dass sich Autor*innen zusammenschließen, etwa Frauen, die schreiben und Sorgearbeit leisten in dem Kollektiv Care / Rage, das in diesem Jahr eine sehr spannende Konferenz abgehalten hat.
Welche weiblichen Schriftstellerinnen sollten Deiner Meinung nach viel mehr Beachtung finden?
Mir geht es vor allem darum, dass literarische Autorinnen als solche ernstgenommen werden, statt in die Frauenecke geschoben und damit von Männern nicht mehr ernstgenommen zu werden. Das gilt für Gegenwartsautorinnen genauso wie für die unzähligen Schriftstellerinnen, die es wiederzuentdecken gibt.
Und zuletzt: Hast Du einen besondere Buchempfehlung für meine Leser:innen?
Was ich in diesem Jahr sehr gern gelesen habe, ist der Roman Schwester von Mareike Krügel, die sehr genau auf Frauenleben, auf Beziehungen, auf Familienverhältnisse guckt. In Schwester geht es außerdem um den Hebammenberuf, darum, wie Schwangerschaft und Muttersein in unserer Gesellschaft behandelt wird, auch und gerade vom Gesundheitssystem. Eine ganz tolle Mischung, dieser Roman. Und wer Kurzgeschichten liebt, dem empfehle ich sehr Dieses makellose Blau von Sarah Raich, bei der es auch oft um Mütter und Kinder geht, um Einsamkeit und Überforderung, oft düster, aber sehr wahrhaftig, finde ich.
Liebe Nicole, ich danke Dir ganz herzlich für dieses so spannende Interview!
Nicole Seifert: Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Köln 2021. ISBN: 978-3-462-00236-2, 224 Seiten. Preis: 18,00 Euro.
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