Iulia und Lone sind Schwestern. Iulia arbeitet in einer Bank, liebt Ordnung und klare Strukturen, ist Mutter eines Sohnes im Teenageralter und mit einem Dorfpfarrer namens Niels verheiratet. Lones Leben ist ganz anders: Sie lebt allein in einem gemütlichen Haus, ist freiberufliche Hebamme und was das wirklich bedeutet, begreift Iulia erst, nachdem Lone einen schweren Autounfall hatte.
Das ist die Ausgangssituation von Mareike Krügels neuem Roman „Schwester“, von dem ich sehr begeistert bin. Besonders überzeugt hat mich, wie authentisch und lebensnah Krügels Figuren geraten sind, denn Iulia – aber auch ihre Schwester Lone – waren mir sofort vertraut und ich hatte eine ganz genaue Vorstellung davon, wie sie sind und was sie umtreibt.
Wachsame Blicke
Nach dem Unfall steht es nicht gut um Lone, aber trotzdem (oder gerade deswegen) ist es nicht das Krankenbett ihrer Schwester, an das es Iulia verstärkt zieht, sondern es ist das Leben ihrer Schwester, das sie begreifen will. Iulia kann und will nicht darauf warten, ob Lone, die ihr sehr wichtig ist, wieder aufwacht, sondern sie muss irgendetwas tun und das hat längst nicht nur mit ihrer Schwester, sondern ebenso mit Iulias eigenem Leben zu tun.
Iulia ist die Pfarrersfrau, die von morgens bis abends unter Beobachtung steht, denn die Schäfchen ihres Mannes sind wachsam und interessieren sich nicht nur für Gottes Wort, sondern ebenso für gepflegte Vorgärten, gewaschene Haare und geputzte Fenster. Diese Form der dauerhaften Beobachtung und der – aus Iulias Warte – unreflektierten Bewunderung ihres Mannes, hat nichts Gutes mit ihrer Ehe gemacht, in der die Rollen ganz klar so verteilt sind, dass Iulia immerzu nur die ‚Frau von‘ ist. Zu Beginn des Romans scheint Julia all das noch halbwegs tapfer weglächeln und ironisieren zu können, was besonders in den Gesprächen mit ihrem Sohn für einige Erheiterung sorgt, aber das ändert sich mit der Zeit beträchtlich.
Milchpumpen und Erschöpfung
Je weiter Iulia in die Arbeit und in das Leben ihrer Schwester eintaucht, desto mehr entfernt sie sich von ihrem eigenen Tun, und merkt, dass sie eine große Sehnsucht nach Veränderung verspürt. Sie lernt die Frauen kennen, die Lone als Hebamme begleitet hat, und plötzlich, da ist sie mittendrin: In einer Welt aus Milchpumpen und liebevollen Gesten, aus Babygeruch, aber auch aus Erschöpfung, verzweifelten Tränen und schlecht verheilten Narben. Das, was Iulia erlebt, während sie sich auf die Spur ihrer Schwester begibt, ist nie nur einfach und einseitig, aber es ist absolut echt und genau das will Iulia auch.
„Schwester“ ist ein wahnsinnig starker Roman, der in klarer, schnörkelloser Sprache von einem entscheidenden Einschnitt erzählt, den wir als Leserinnen und Leser gemeinsam mit der Hauptfigur Iulia erleben. Jeder Schritt von ihr ist nachvollziehbar und obwohl Iulia große Veränderungen durchlebt, bleibt sie ganz unaufgeregt sie selbst. Dabei spielen die Gespräche mit Lones Frauen eine entscheidende Rolle und Krügels Darstellung der Freuden, Ängste und Bedürfnisse schwangerer Frauen und Mütter sind so genau und treffend eingefangen, wie man es nicht häufig in einem Roman zu lesen bekommt.
Hier werden keine illusionären Bilder von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft erzeugt, sondern ganz im Gegenteil: Durch Iulias Besuch kommen die Frauen ins Erzählen und sie sind so offen, als stände tatsächlich ihre Hebamme Lone vor ihnen. Dabei zuzuhören und gleichzeitig festzustellen, was das ferne Leben ihrer Schwester mit Iulia macht, ist ein echtes Lesehighlight, denn „Schwester“ ist ein sehr wahrer Roman über Frauen und über die Strukturen, in denen wir leben, die es mindestens hartnäckig zu hinterfragen gilt.
Mareike Krügel: Schwester. Piper Verlag 2021. ISBN: 978-3-492-05856-8, 336 Seiten. Preis: 22,00 Euro.