Überlebt hat nur einer. Als sich oberhalb des Dorfes eine Tragödie abspielt, muss der Junge namens Martin Dinge mit ansehen, die unaussprechlich sind. Martin ist die Hauptfigur in Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit schwarzem Hahn“, dem seit jenem Schicksalstag ein schwarzer Hahn zur Seite steht, den die Dorfbewohnern fürchten, weil sie den Teufel in ihm wähnen.
Als eines Tages ein Maler ins Dorf kommt, um das Altarbild für die kleine Kirche zu fertigen, weiß Martin sofort, dass er am Ende des Winters mit dem Maler fortgehen wird und genau so kommt es auch.
Eine besondere Gabe
Martin ist der Junge mit den schönen, guten Augen, der über eine besondere Gabe verfügt, die sich während seiner Reisen durch ein verwüstetes, ödes Land als überaus nützlich herausstellt. Martins Augen sind der Schlüssel zu dem, was er vermag: Er kann sehr genau sehen und beobachten, entdeckt kleinste Details und sieht Zusammenhänge, die andere nicht einmal erahnen. Und Martin hat eine Mission, denn seit Jahren gibt es die Sage von den dunklen Reitern, die die Kinder rauben. Als der Junge selbst Zeuge eines solchen Verbrechens wird, ist Martin klar, welcher Bestimmung er zu folgen hat: Er will die entführten Kinder zurückbringen und lässt sich dafür auf ein äußerst gefährliches Spiel ein.
Zwischen Cormac McCarthy und Robert Schneider
„Junge mit schwarzem Hahn“ ist der Debütroman von vor Schulte, die in einem Interview gefragt wurde, welche anderen Kunstwerke sie beim Schreiben ihres Buches beeinflusst haben: „The Road“ von Cormac McCarthy und der Film „Biutiful“ von Alejandro González Iñárritu, gab die Autorin zur Antwort.
An „The Road“ fühlte ich mich während der Lektüre tatsächlich stellenweise erinnert, an „Biutiful“ nicht, aber da mich dieser Film vor Jahren immens mitgenommen hat, schaue ich ihn vor dem Hintergrund der Romanlektüre gerne ein weiteres Mal.
Weil ein Text aber immer so viel mehr ist, als die Summe seiner Teile, und weil jede/r Leser/in einem Text noch das hinzugibt, was er oder sie selbst mitbringt, kann ich nicht umhin, hier Vergleiche zu ziehen: Vor Schultes Sprache ist reduziert auf das Nötigste, aber ihre Sätze erscheinen dadurch umso prägnanter. Auf diese Weise erschafft sie eindrückliche Szenen und Momente, verpackt Textabschnitte in einzelne Sequenzen, die ich so noch nicht gelesen oder gesehen habe und ich wusste manchmal nicht, an was ich alles zuerst denken sollte. Da gibt es Passagen, die erinnern mich an Theateraufführungen und da ist eine Herrscherin, die diese Bühne einnimmt, und die ich als literarische Verwandte der Herzkönigin aus „Alice im Wunderland“ gelesen habe. Da sind Momente des stillen Genies und unweigerlich denke ich an Süßkinds „Das Parfum“, aber Martin ist kein Mörder, im Gegenteil!
Ich fühle mich erinnert an „Schlafes Bruder“ von Robert Schneider und an „Das finstere Tal“ von Thomas Willmann sowie an die frühen Romane des Österreichers Gerhard Roth, weil die Atmosphäre in Martins Heimatdorf von so grausamer Stumpfheit, menschlicher Gemeinheit und versoffener Hinterlistigkeit ist.
Umkreisungen eines einzigartigen Debüts
Doch all diese Vergleiche sind nur Umkreisungen eines Romans, dem das gelingt, was selten ist: es ist eine ganz eigene Erzählwelt, in die wir hier eintauchen können, mit Martin und seinem Hahn als außergewöhnlichem Duo, dem alle Aufmerksamkeit gebührt. Ihre Geschichte ist besonders und kann im Kleinen das große Ganze umfassen, weil sie vom Menschen, wie er ist und wie er sein sollte, erzählt. Es ist ein dunkles Märchen, in das „Junge mit schwarzem Hahn“ eine/n hineinzieht, aber es ist keins, das ohne Hoffnung wäre.
Vor Schultes Sätze kommen ohne Ausflüchte zurecht. Sie sind direkt, sie treffen genau und kein Wort wird verschwendet. Die Fülle der dabei erzeugten Bilder ist dafür umso gewaltiger und das letzte Worte sollte der haben, der sowieso schon alles weiß:
„“Eines Tages“, flüsterte der Hahn. Eines Tages wirst du hier gewesen sein. Eines Tages wirst du wissen, wie alles ausgegangen sein wird. Eines Tages magst du Alpträume haben, denn alles wird entsetzlich gewesen sein. Aber du wirst auch erzählen können, wie einfach es gewesen ist. Und dass nur du es konntest.““ (117)
Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn. Diogenes 2021. 224 Seiten, ISBN:
978-3-257-07166-5. Preis: 22,00.